Voll Wert 

Lilli Gruber: Wiegemesser (Foto: Tamm)

03.06.2023 bis 01.07.2023

Wenn man den Bereich Ernährung in den Blick nimmt, dann beschreibt Vollwert eine überwiegend pflanzliche Ernährungsweise, bei der gering verarbeitete Lebensmittel bevorzugt werden. Gesund essen, Leckeres genießen und gleichzeitig die Umwelt schonen – das ist mit Vollwertkost ganz einfach. Aber was bedeutet Voll-Wert, wenn wir auf den Bereich der angewandten Kunst, des Kunsthandwerks und Designs schauen. Meinen wir damit ein wertvolles Material, eine anspruchsvolle Technik, den Gebrauchswert oder die Wiederverwertbarkeit eines Exponats oder die gesamte Wertschöpfungskette vom Basismaterial bis zum fertigen Produkt? 

In der Sommerausstellung 2023 zeigen wir in der Handwerksform die Arbeiten von 20 Teilnehmer*innen aus sieben Werkbereichen, hinter denen sich wirklich spannende Geschichte verbergen, die alle um das Thema kreisen und es aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten.

Textil

Gemeinsam regional: Das ist die Überschrift, unter der der Beitrag von Carina Reso und Dora Herrmann steht. Carina Reso, Jungbäuerin in Alvesrode und Besitzerin von Alpakas und Kaschmir-Ziegen, hat 2019 eine ganze Spinnstraße aus Kanada importiert und damit in einem ausgedienten Stallgebäude ihre „Kleine Spinnerei“ gestartet. Sie wollte nicht länger Wolle aus regionaler Produktion als wertlosen Abfall entsorgen. Durch eine Freundin bekommt sie Kontakt zur Weberin, Färberin und Textilenthusiastin Dora Herrmann, die seit 1984 professionell als Weberin unterwegs ist. Herrmann ist bekannt für ihre Bildweberei und ihre hauchzarten Kaschmir-Seidenschals, deren Garne sie selbst einfärbt. Es ist der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit, bei dem ein wertvolles Material aus der Region zu ganz besonderen, langlebigen und nachhaltigen Produkten weiter verarbeitet wird.

Nachhaltiges Design war schon immer ein Steckenpferd von Ute Ketelhake. 2012 gründete sie ihr eigenes Unternehmen: „Second Life Rugs“. An einem Hochwebstuhl, der noch aus den Beständen ihrer Mutter stammte, wurden die ersten Teppiche geknüpft. Seither ist Ute Ketelhake dabei, ihren Traum von einem politisch korrekten Produkt, das die Ressourcen schont und ohne Kinderarbeit und ohne Müll hergestellt werden kann, Schritt für Schritt umzusetzen. Hinter dem Label „Second Life Rugs“ verbergen sich Teppiche und Wohnaccessoires aus Lana Cotta, die die Designerin aus Springe im geschlossenen Kreislauf herstellt. Für ihre Produkte müssen keine Schafe extra aufwachsen und geschoren werden, denn sie nutzt keine neue Wolle, sondern hochwertige GOTS zertifizierte Schurwollreste aus der Bekleidungsindustrie, die bei der Herstellung anfallen, den Verbraucher aber nicht erreichen. Für ihre nachhaltig produzierten Teppiche wurde Ute Ketelhake 2013 mit dem Bundespreis ecodesign und 2016 mit dem Niedersächsischen Staatspreis für das gestaltende Handwerk ausgezeichnet.

Esther Schulte wurde im Ruhrgebiet geboren und nach der Sänger Esther Ofarim benannt. Sie ist heute 55 Jahre alt, stolze Mama und Oma. Ihre künstlerisch-kreative Ader und der Hang zum Extremen wurden bereits im Elternhaus geweckt. Sie wollte sich von der Masse abheben und trug deshalb mit Vorliebe Second Hand Klamotten aus den 50er, 60er und 70er Jahren. Da die Kleidungsstücke aber oft nicht richtig passten, gab es nur eine Lösung: nähen lernen. So kam Esther Schulte zur Ausbildung als Schneiderin. Ende 2010 lernte sie Susanne Doebel kennen. Es entwickelte sich eine innige Freundschaft, aus der im Herbst 2017 eine Idee geboren wurde. Die Idee für das Label Wertstoff-Couture. Wertstoff-Couture ist ein Up- und Transcyclinglabel. Es folgt dem Motto „Es ist alles schon da“ und gibt Textilien mit Geschichte einen neuen Wert. Aus der Ursprungsidee – Kaffeesäcke zu Mänteln zu verarbeiten – haben sich seit 2017 viele Varianten des Transcyclings, also des Umdeutens von Stoffen, entwickelt. Die Einzelstücke erzählen Geschichten, oft interkulturell, überraschend, immer originell. Sie beziehen die Wesenhaftigkeit ihrer Trägerinnen und Träger ein, werden auch zu Kraftgewändern, eine Couture-Profonde, die ein Statement ist in einer Zeit des Wandels.

Metall

Um Ressourcen und unsere Umwelt zu schonen fertigt Lilli Gruber ihre Objekte aus recyceltem Neuschrott, also aus Produktionsabfällen wie z.B. Laserschnittresten oder Stanzabfällen. Dadurch kann sie die Emissionen, die sowohl bei der Herstellung als auch beim Recyceln von Stahl im Stahlwerk anfallen, vermeiden. Sie hat verschiedene Kleinserien und Unikate entwickelt –  Werkzeuge wie Nageleisen, Flaschenöffner, Gartenhacken und Küchenmesser – und bietet ihren Kunden und Kundinnen ein durch und durch ehrliches, vollwertiges Produkt an.

Holz

Thomas Pildner, der früher lange im Management der Luftfahrindustrie gearbeitet hat, ist mittlerweile Drechsler. Er verarbeitet ausschließlich Holz aus seiner Region, Holz, das schon abgefallen ist. Kein Baum wird eigens für ihn abgeschlagen. Dazu liegen ihm Bäume zu sehr am Herzen, und er setzt alles daran, sie am Leben zu erhalten. Pildner liebt Holz, weil es ein lebendiges Material ist, an dem vieles deutlich wird: wechselnde Umweltbedingungen etwa, aber auch der Einfluss des Menschen. Spuren von Verletzungen werden spätestens während des Drechselprozesses sichtbar. Sie zeigen, dass ein Baum auch unter schwierigen Bedingungen weiter wachsen kann. Vor allem das Holz von Mammutbäumen hat es ihm angetan. Massiv, dickwandig, archaisch, expressiv präsentieren sich die Objekte, die in seiner Werkstatt entstehen, mehr Skulptur als Gefäß, mehr Kunstobjekt als funktionales Produkt.

Taschen

2016 gründeten Karen Häcker, die an der Bauhaus-Universität Weimar Produktdesign studiert hat, und der Umweltwissenschaftler Michel Treiber das Label industrierelikt und setzen seither alles daran, um wertvolle Ressourcen vor der Verschwendung zu retten und daraus neue Produkte entstehen zu lassen. Wertvolle Furnierhölzer und robuste Textilien prägen die zeitlose Formsprache des Taschen-Labels. Die Kombination von Holz und Textil sorgt für einen festen Stand und schützt den Inhalt vor Stößen und Wetter. Zudem sind die Taschen schmutzabweisend und einfach abwaschbar. Die Materialien für die Produktion bezieht industriereliktdeutschlandweit aus verschiedenen Produktionszweigen, zum Beispiel FSC-zertifizierte Furniere aus der Produktion von Autodekorleisten oder dem Yacht-Innenausbau. Die Außentextilien stammen aus der Herstellung von Friseurstühlen und medizinischen Liegen. Für das Innenfutter werden Restposten verschiedener Tuchfabriken genutzt.

Auch bei den Objekten von Godje Mahn geht es darum, altes, scheinbar wertloses oder nutzloses Material aufzuwerten und zu schönen neuen Dingen umzuarbeiten. Es ist die zeitgemäße ästhetische Fortsetzung des Recyclings, nachhaltig, ökologisch, kreativ. In ihrer Manufaktur werden Unikate aus einem Materialmix aus alt und neu – Gummi, Filz und beschichtetem Stoff- gefertigt. So bringt die gelernte Damenschneiderin Ästhetik, Design, Funktion und Nachhaltigkeit in unverwechselbaren Produkten zusammen.

Keramik

Theresa von Bodelschwingh hat sich die Auseinandersetzung mit dem Thema „Voll-Wert“ nicht leicht gemacht. Auch sie suchte zunächst nach einem Produkt, das das Thema Nachhaltigkeit aufnimmt. Aber das war ihr dann doch nicht genug.  Sie entschied sich dafür, einen anderen Aspekt in den Fokus stellen: die Sozialverträglichkeit. So entstand die Reisschale „LeaveNoOneBehind“, in die einige mit Glasur gefüllte Löcher eingearbeitet sind, die an Reiskörner erinnern. LeaveNoOneBehind (deutsch: Lasst niemanden zurück) – dieser Ausspruch, der auch als Hashtag weltweit benutzt wird, wurde in den letzten Jahren verwendet für Solidarität an den europäischen Grenzen, wo Unmenschliches passiert. Die Schüssel soll daran erinnern, dass wir von unserem Wohlstand ein bisschen übriglassen. Exemplarisch etwas Reis, in der Realität könnten dies ein paar nette Worte sein, eine Spende, ein offenes Herz oder eine politische Entscheidung. Pro verkaufter Schüssel gehen 5 Euro an die Organisation Seebrücke, die sich für sichere Fluchtwege, ungehinderte Seenotrettung und für ein Ende des Sterbens an europäischen Grenzen engagiert.

Schmuck

Sham Padwardhan-Joshi hat sich in seiner Arbeit mit der Frage beschäftigt: Was bedeutet Voll-Wert? Ist es der Marktwert, der Nennwert oder etwas, das Nostalgie oder Erinnerungen hervorruft? Er hat Schmuck aus Münzen oder ähnlichen Materialien kreiert, die über die Jahre und Jahrzehnte ihren Wert als Zahlungsmittel verloren haben. So wurden unter anderem Plastikscheiben, die nur in Spielhallen in Gebrauch waren und dort ihren Wert hatten, zur Halskette. Eine Metamorphose von Nullwert zu Voll-Wert oder wertvoll.

Teilnehmer*innen

  • Jutta Arndt, Schmuck
  • Gudrun Beerbohm, Textil
  • Theresa von Bodelschwingh, Keramik
  • Lilli Gruber, Metall
  • Karin Häcker, Taschen
  • Dora Herrmann & Carina Reso, Textil
  • Astrid Jansen, Leder
  • Ute Ketelhake, Textil
  • Mathias Kirchhoff, Holz
  • Klaus Kirchner, Holz
  • Godje Mahn, Taschen
  • Gabriele Marl, Fotografie
  • Michelle Mohr, Textil
  • Maria Ohlendorf, Textil
  • Thomas Pildner, Holz
  • Melanie Richet, Strohmarketerie
  • Sham Patwardhan-Joshi, Schmuck
  • Esther Schulte & Susanne Doebel, Textil

Ausstellungseröffnung

Samstag, 03.06.2023, 12 Uhr

Begrüßung und Einführung in die Ausstellung
Dr. Sabine Wilp
Leiterin Handwerksform Hannover

Öffnungszeiten der Ausstellung:

Dienstag bis Freitag 12 bis 19 Uhr, Samstag 12 bis 17 Uhr
Sonntag, Montag und an gesetzlichen Feiertagen geschlossen

Der Eintritt ist kostenfrei.

Ausstellungsführungen

Donnerstag, 15.06.2023 und Donnerstag, 29.06.2023
jeweils von 16.30 bis 17.30 Uhr
Durch die Ausstellung führt Dipl.-Des. Rüdiger Tamm